© DAV-LU / Sylvia Buhl

Die niedrigste Hochtour der Alpen

oder: Kuchenstücke unter 300g sind Kekse

13.07.2022

Sommer 2021. Endlich wieder in die Berge! In die Alpen, die ich seit der Schneeschuhtour am Hochgrat im Februar letzten Jahres nicht mehr gesehen habe. Meine bereits für den letzten Sommer geplante Führungstour „Im Schatten des Watzmanns. "Klettern und Bergsteigen an der Blaueishütte" fand wirklich statt! Nach dem Sommer 2020 und dem tourenlosen folgenden Winter hab‘ ich’s erst wirklich geglaubt, als ich zu Hause losfuhr.

Nach einer Nacht auf dem Campingplatz in Bischofswiesen stiegen Sylvia und ich am Freitagmorgen ab dem Parkplatz Zauberwald (800m) zur Blaueishütte auf. Der Zustieg führt
zum größten Teil über breite Wirtschaftswege, ehe er nach der Talstation der Materialseilbahn zum schmalen, stufenreichen, gut zu gehenden Pfad wird. Nach ca 2,5 h standen wir dann vor
der berühmten Hütte auf 1651m, dahinter hufeisenförmig aufgereihte Berge. Links der Steinberg, ganz rechts die Schärtenwand, dazwischen Schärtenspitze, Blaueisspitze,
Hochkalter, Kleinkalter und Rotpalfen. Dazu am Fuße des Hochkalters, im hintersten Eck, der Blaueisgletscher, zumindest das, was davon noch übrig ist.

Und als wir uns noch einmal in Richtung des Aufstiegsweges drehten, bot sich uns ein atemberaubender Blick zum grün-blauen Hintersee. Wow! Das ist mal ein genialer Platz für eine Hütte! Wir waren schon freitags aufgestiegen, da wir vor der DAV-Tour noch eine FÜL-Fortbildung bis zum Sonntagnachmittag hatten. Kurz nach Ende dieser Veranstaltung kamen dann auch Heino und Sven schwer bepackt auf der Hütte an. Mit Sylvia und den beiden genannten hatte ich somit meine drei Teilnehmer zusammen.

Über die Blaueishütte hatten wir zuvor schon viel Gutes gehört, vor allem vom Kuchen wurde immer wieder geschwärmt. Und wir wurden absolut nicht enttäuscht. Tolle Hütte mit einem sehr netten, hilfsbereiten Team, klasse Essen und Kuchen in üppigen Portionen. Am Ausschank hängt ein Schild mit folgendem Aufdruck: „Kuchenstücke unter 300 g sind Kekse.“ Aus einem der selbstgebackenen Kuchen machen die dort gerade mal 8 Stücke, die somit entsprechend groß sind. Und lecker! Und das Ganze in einem tollen Klettergebiet! Herz, was begehrst du mehr?

Am nächsten Morgen ging’s dann gleich an den vom nächtlichen Regen noch feuchten Fels. Nach einem Zustieg von max. 5 (!) min standen wir am Fuß der Platten auf der Westflanke des
Steinberges am Einstieg der Route „Plattenweg“. In zwei Varianten geht es erst einmal hoch bis unter einen Überhang. Heino und Sylvia nahmen, in Kletterschuhen, die rechte, schwerere Variante (4) mit dem Einfachseil. Sven und ich die etwas leichtere Original-Route (3) in Bergschuhen mit Halbseilen. Nomen est Omen, bei diesen ersten 5 SL handelt es sich um fast
reine Platten- (Reibungs) Kletterei, bevor sich die beiden Varianten an einem Stand unter dem Überhang treffen. In 5 weiteren SL geht es leicht und etwas botanisch nach rechts oben weiter, bis zu einer markanten Verschneidung. Diese kaminartig hoch (4 Bohrhaken, 2 Normalhaken), laut Topo 3. Naja, da kann man aber streiten, wir alle waren der Meinung dass es deutlich
schwerer war. Nach der Verschneidung rechts raus ins Gehgelände und weiter zum Normalweg des Steinberges. Nach ca 20 min war dessen Gipfel (2065m) erreicht. Toller Ausblick, vor allem nach Norden in Richtung Ramsau. Es erinnerte uns an einen Blick auf eine idealisierte Modelleisenbahnlandschaft.

Nach einer großzügigen Gipfelrast stiegen wir auf dem schottrigen Normalweg zurück zur Blaueishütte, genau richtig zum Nachmittagskaffe (und Kuchen!).

Für den nächsten Tag hatten wir uns eine besondere Tour ausgesucht. Der Hochkalter stand schon lange auf meiner „To Do“-Liste. Klassisches, seilfreies, ungesichertes Bergsteigen auf den höchsten Gipfel des gleichnamigen Massivs und einer der höchsten deutschen Berge. Die Meisten gehen von der Blaueishütte über den Schönen Fleck und den Grat zum Gipfel und steigen dann nach Westen ins Ofental ab. Ich hatte aber schon lange eine Besteigung über den Blaueisgletscher im Kopf. Ein paar Tage zuvor hatte ich mich telefonisch beim Hüttenwirt über die Bedingungen auf dem Gletscher informiert und bekam zumindest Auskunft, dass noch viel Schnee auf dem Eis liegt. Über den Zustand der Randkluft habe ich allerdings nichts erfahren. Ich entschied mich dazu, es zu versuchen und zusätzlich die Hochtourenausrüstung (Steigeisen, Pickel und Eisschrauben) mitzunehmen. 

Am frühen Dienstagmorgen machten wir uns zu dritt auf den Weg zum Gletscher. Leider fühlte sich Sven gar nicht gut und blieb auf der Hütte. Mit Steigeisen stiegen wir, ohne Seil auf den anfangs noch recht flachen Gletscher, in festem, griffigem Schnee. Nach Überwindung eines querliegenden Felsriegels steilt sich das Gelände langsam bis auf geschätzte 45 Grad auf, was aber dank der beschriebenen Bedingungen kein Problem war. Die Überwindung der Randkluft war zwar mühsam, dank eines Stahlseiles links an der Wand aber ebenfalls kein Problem.

Dann standen wir vor einer glatten, senkrechten Wand. 15 Meter weiter oben ist die Blaueisscharte, unser nächstes Ziel, zu dem ein Stahlseil durch die genannte Wand führt. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder in freier Kletterei (locker 5ter Grad) in Bergschuhen so souverän hochklettern, dass man sicher nicht in die Bandschlinge am Stahlseil fällt, oder, wie ich, sich am Stahlseil irgendwie hochschaffen. Was ein Kraftakt! Irgendwie haben wir es dann alle geschafft, einer lockerer (Heino), ein anderer pumpend wie ein Maikäfer (ich). Nach eine Verschnauf-, Trink und Essenspause entschieden wir uns (zum Glück) nicht noch zusätzlich die Blaueisspitze mitzunehmen, das hätte uns noch eine weiter Stunde gekostet, sondern stiegen direkt in den unmarkierten, sicherungsfreien Ostgrat. Sylvia ging vor und fand souverän den besten Weg. Viele 2er Stellen, wenig exponiert und kurz vorm Gipfel noch eine deutlich schwerere, ausgesetzte Passage. Nach ca 5 h standen wir dann zusammen mit ein paar
anderen Bergsteigern auf dem Gipfel des Hochkalters (2606m). Dank super Wetters hatten wir auch auf diesem Gipfel einen genialen Ausblick auf die markanten Berge in der Umgebung wie
Untersberg, Watzmann oder die Loferer Steinberge, weiter bis in die Zentralalpen und nordostwärts zum Chiemsee.

Dann der Witz des Tages. Auf dem Gipfel stand ein Schild mit der Aufschrift „Blaueishütte 2,5 h“. Um es gleich vorweg zu nehmen, wir haben, mit Pausen, noch weitere 5 h gebraucht. Der Weg über den Grat zum Kleinkalter und Rotpalfen ist, zumindest in den ersten 2 Dritteln, exponiert und mit 2er Kletterstellen im Abstieg gespickt, dazu vereinzelte schwerere Passagen. Ich behaupte mal ganz unbescheiden, dass wir drei diese Schwierigkeiten problemlos seilfrei und zügig bewältigen können und trotzdem haben wir fast doppelt so lange wie auf dem Schild beschrieben gebraucht. Wie kommt man zu dieser Zeitangabe? Fliegt man da ein paar junge Bergführeranwärter mit dem Hubschrauber auf den Gipfel damit sie noch keinen Aufstieg in den Beinen haben und lässt sie so schnell wie möglich zur Hütte rennen? Wie schon gesagt, mit den 5 Stunden Aufstieg schon in den Beinen waren wir deutlich langsamer unterwegs. Und auch nach den Gratpassagen zieht sich das Ganze doch gewaltig bis zur Schlüsselstelle einer senkrechten ca. 10m hohen Wand im zweiten Grat. Wir entschieden uns das bisher unnötig mitgetragene Seil wenigstens einmal zu nutzen und seilten uns ab. Dann ging es noch einige Minuten weiter bis zum (vermeintlichen) Ende der Kletterschwierigkeiten am schönen Fleck. (Nebenbei gefragt, warum heißt ausgerechnet diese Stelle „Schöner Fleck“? Weiter oben gab es ganz sicher schönere Stellen.)

Nach einer letzten kurzen Pause gingen wir die letzte Etappe an. Zu unserer Überraschung kam aber direkt nach dem schönen Fleck noch einmal eine längere Kletterpassage, eine leicht
geneigte, gut griffige 50 m Wand mit vereinzelnden Latschenkiefern. Gut zu klettern, aber stürzen sollte man da auf keinen Fall. Von dieser Stelle hatte ich in keiner der vielen
Tourenbeschreibungen gelesen. Weil kaum einer die Tour in dieser Richtung macht? Und zum krönenden Abschluss eine steile Schotterpassage hinunter ins Blaueiskar, mit genug Geröllauflage zum Stürzen, aber zu wenig zum Abfahren. Ätzend!

Nach 10 h erreichten wir dann müde, aber glücklich und zufrieden wieder die Blaueishütte. Was für eine Tour! Großartig! Irgendwo habe ich die Bezeichnung „niedrigste Hochtour der Alpen“ gelesen. Passt! Ob der Aufstieg über den Blaueisgletscher in 5 oder 10 Jahren noch machbar ist halte ich für mehr als fraglich. Aber wir haben ihn gemacht. Yes!!!!

Viel verpasst hat er am nächsten Tag nicht, denn wir saßen bis zum Nachmittag in den Wolken und machten nichts außer einer kleinen Wanderung zur Ruine der alten Blaueishütte, die 1955 durch eine Lawine zerstört wurde. Am Donnerstag stiegen wir wieder bei bestem Wetter zum Parkplatz Zauberwald ab. Kaum saßen wir in den Autos begann es stark zu regnen. Glück gehabt! Oder einfach gut geplant? Dann ging’s in 6 (!) Stunden zurück in die Pfalz…

von Christian Stolina